Ich schäme mich!
Scham ist ein faszinierendes, aber auch extrem komplexes Thema, das ich in diesem kurzen Blog nicht erschöpfend behandeln kann. Dennoch bewegt mich das Thema Scham, sowohl meine eigenen Erfahrungen als auch die meiner Klienten, zu sehr, um nicht darüber zu schreiben.
Scham und Schuld haben zahlreiche Leben beeinflusst und sogar beendet. Unzählige Taten von Mord und Selbstmord gehen auf Scham zurück. Es gibt Menschen, die zwar physisch existieren, aber aufgrund ihrer Scham keine Lebensfreude mehr verspüren. Doch genauso wie jede andere Emotion spielt auch Scham eine Rolle in unserer Überlebensstrategie und hat zur menschlichen Erfolgsgeschichte beigetragen.
Scham ist allgegenwärtig. Allein die Vorbereitung für diesen Blog hat mich von Scham überwältigt. Zum einen fällt mir Grammatik und Rechtschreibung wirklich schwer, zum anderen bin ich kein ausgewiesener Experte oder anerkannter Forscher. Doch die Scham, diesen Blog nicht zu schreiben, ist grösser als die Angst, Fehler zu machen.
Fakt ist, meine blosse Existenz verleitet andere oft dazu, mich zu beschämen: Cis-Mann, Jahrgang '76, Life Coach, Homosexueller, Berner. Doch dank der Forschung wissen wir heute, dass es sich halt unglaublich "gut" anfühlt, sich über andere lustig zu machen oder sich über andere zu stellen.
Doch auch wenn wir uns endlich verletzlich zeigen und über unsere Scham sprechen, finden wir oft noch jemanden, der versucht, uns wegen unserer Scham weiter zu demütigen: „Was, dafür schämst du dich? Immerhin bist du gesund und hast ein Dach über dem Kopf...“ Solche Aussagen können uns noch tiefer in die Scham treiben.
Den Teufelskreis der Scham durchbrechen
Es ist nicht so, dass man sich gleich "schamloser" fühlt, wenn man sich als Schämender outet, aber es kann helfen, dieses lähmende Gefühl zu überwinden. Denn nichts nährt die Scham mehr, als sie zu verbergen. Das kann zu einem Teufelskreis führen.
Scham als Geschäft
Plattformen wie LinkedIn, Instagram und Facebook können Scham noch verschärfen. "Endlich glücklich?", "Endlich schlank?", "Endlich erfolgreich?", "Endlich verpartnert?", "Endlich reich?" Doch wenn du immer noch depressiv, arbeitslos, Single, rundlich oder arm bist, dann heisst es: Schäm dich!
Scham ist eine lukrative Angelegenheit, sei es für Erpresser wie im Klatten-Skandal, bei "Sextortion", bei Potenzmitteln oder mit Pornoseiten. Milliarden werden mit Scham verdient.
Aber was treibt uns wirklich an? Lebenslust? Freude? Neugier? Oder vielleicht sogar die Scham?
Als Kinder rannten wir nackt herum, spielten, lachten, weinten - einfach, weil es richtig war. Wir waren stolz auf unsere Kunstwerke, zeigten unsere Talente. Dann lernten wir, dass unsere Gedanken, Handlungen und Gefühle "falsch" sein können. "Heute schämen wir uns schon, wenn wir im Zoo einen Affen sehen, der sich selbst befriedigt oder wenn unser Hund einen anderen besteigt."
In der Pubertät schämen wir uns für unseren Körper, egal wie er aussieht, weil uns das eingeimpft wurde, durch Vergleiche und Mobbing, noch verstärkt durch die sozialen Medien.
An meiner Schule war da dieser Junge, der von seinen Eltern unterstützt wurde und voller Selbstvertrauen war. Ich beneidete ihn und schämte mich zugleich dafür, dass mir das nicht vergönnt war. Aber vielleicht war ich es einfach nicht wert, dachte ich - leider!
Meine verschwendete Lebenszeit aufgrund von Scham
Aufgrund eines körperlichen Merkmals habe ich in meiner Jugend mein T-Shirt praktisch nie ausgezogen. Was für eine vergeudete Zeit! Und dann schämte ich mich auch noch für diese Scham.
Und obendrauf kam noch meine Homosexualität. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, hätte ich mich ohne Zögern einer Konversionstherapie unterzogen. Das Schamgefühl, das in Selbstmord münden kann, verstehe ich leider nur allzu gut.
Scham als Waffe
Obwohl ich versuchte, meine Homosexualität zu verstecken, wurde sie entdeckt – und in einem Fall wurde dies sogar zu meinem „Vorteil“. Früher wurde ich fälschlicherweise wegen eines Vergewaltigungsversuchs an einer Frau angeklagt. Ich kann bis heute nicht sagen, was mich mehr beschämt hat – der Freispruch aufgrund meiner sexuellen Neigung oder der eigentliche Vorwurf.
Doch dann habe ich eine andere Seite der Scham erlebt: Nachdem ich zu Unrecht beschuldigt worden war, wurde ich später selbst Opfer einer Vergewaltigung. In dieser Situation gab es niemanden, der mich mehr hätte beschämen können als ich mich selbst. Die Scham entsteht jedoch nicht durch das Opferverhalten, sondern durch externe Faktoren wie soziale Normen, Tätermacht und Vorurteile. Sie ist nicht gerechtfertigt und sollte kein Teil des Heilungsprozesses sein. Opfer verdienen Unterstützung und Verständnis, um mit den Folgen der Vergewaltigung umzugehen.
Es ist wichtig, in solchen Momenten Hilfe zu suchen und Anzeige zu erstatten, sonst unterstützen wir die Täter in ihrem Handeln.
Doch wie unglaublich schwierig das ist, erzählen diese Frauen:
Scham oder Schuld?
Selbst in der Fachliteratur wird zwischen Schuld und Scham unterschieden: Schuld bezieht sich auf die Bewertung eines bestimmten Verhaltens („Ich habe etwas Falsches getan“), während Scham eine negative Bewertung des eigenen globalen Selbst darstellt („Ich bin ein schlechter Mensch“).
Die Attributionstheorien untersuchen, ob einzelne Handlungen als repräsentativ für die gesamte Person betrachtet werden. Im Kindesalter verstehen wir diesen Unterschied oft nicht. Bei der Kritik der Eltern fühlen wir uns oft als „schlechte“ Menschen, wenn wir zum Beispiel vor dem Mittagessen Schokolade essen. Dies betrifft jedoch das Verhalten, nicht das Kind selbst. Dies ist nicht förderlich für ein gesundes Selbstbewusstsein.
Ähnlich ist es in Fällen wie der obigen Vergewaltigungssituation: Menschen neigen dazu zu denken, dass das Opfer selbst schuld sei, wenn es sich in einer Situation befindet, in der es zu einer Gewalttat kommen könnte und nicht aktiv widersteht. Diese Vorstellungen vermischen Schuld und Scham, was Opfer dazu bringen kann, lange Zeit oder sogar lebenslang zu schweigen.
Scham kann schädlich, aber auch nützlich sein. Es lohnt sich, genauer hinzusehen.
Scham hat in sozialen Gemeinschaften eine moralische und selbstbewusste Funktion. Sie dient dazu, Regeln aufrechtzuerhalten, persönliche Grenzen und Bedürfnisse wahrzunehmen und sich selbst zu regulieren. Diese Funktion war möglicherweise evolutionär vorteilhaft, da Scham auch bei Tieren auftritt und möglicherweise schon im sehr frühen Säuglingsalter in Bindungssituationen erlebt wird.
Wenn wir begreifen, dass Scham dazu dient, uns zu schützen und nicht zu bestrafen, kann das heilsam sein.
Man sagt ja: Die Dosis macht das Gift. Als ich einer Freundin diesen Blog zeigte, traf mich ihre Reaktion wie ein Schlag. 'So findest du nie Kunden', sagte sie. Klar hat es kurz gestochen, aber letztlich ist es nur ein Feedback. Wichtig ist dabei allerdings auch zu überlegen, welche Kompetenz derjenige hat, der Feedback gibt.
Wie man mit Scham umgehen kann
Wie kannst du deine Scham überwinden? Versuche nicht, sie zu überwinden, sondern lerne, mit ihr umzugehen. Hier sind effektive Wege:
- Emotionales Bewusstsein: Erkenne die körperlichen Zeichen von Scham und suche bei starken Gefühlen sofort Unterstützung.
- Ursachen erkennen: Reflektiere, woher deine Scham stammt, oft liegen die Wurzeln in der Vergangenheit.
- Auslöser identifizieren: Achte auf Auslöser für schamvolle Gefühle, sei es ein Kommentar oder ein Erlebnis aus der Vergangenheit.
- Weiterbildung: Erfahre mehr über Scham, zum Beispiel durch Bücher von Experten wie Brené Brown, um Scham besser zu verstehen.
- Selbstfürsorge: Sei sanft zu dir, übe Selbstmitgefühl und positive Selbstgespräche, vor allem in schwierigen Situationen.
- Gesunde Beziehungen: Umgebe dich mit unterstützenden, nicht verurteilenden Menschen und trenne dich von toxischen Beziehungen.
- Offenheit: Teile deine Gefühle mit vertrauten Personen. Scham kann nicht überleben, wenn sie ausgesprochen wird.
- Hinterfrage Erwartungen: Überdenke gesellschaftliche Erwartungen bezüglich Familie, Aussehen usw. und definiere deine eigenen Werte.
- Grenzen setzen: Lerne, klare Grenzen zu setzen, um Situationen zu vermeiden, die Scham auslösen könnten.
- Achtsamkeit praktizieren: Entdecke Achtsamkeitstechniken, die helfen können, Schamgefühle zu mildern.
- Gesunde Routine: Pflege eine gesunde Lebensweise mit Bewegung, Ernährung und ausreichend Schlaf, um deine Belastbarkeit zu stärken.
- Künstlerischer Ausdruck: Nutze kreative Formen der Selbstexpression, um deine Emotionen zu verarbeiten.
- Professionelle Hilfe: Erwäge Selbsthilfegruppen oder Therapie, um Scham zu bewältigen und neue Strategien zu erlernen.
- Grenzen respektieren: Setze klare Grenzen, um Situationen zu vermeiden, die Schamgefühle hervorrufen.
- Fortschritte feiern: Würdige deine Erfolge, egal wie klein sie sind, um deine Reise zur Schamüberwindung zu würdigen.
- Geduld haben: Die Bewältigung von Scham ist ein Prozess. Sei geduldig und gib dir Zeit, um zu heilen und zu wachsen.
"Die Scham will, dass wir glauben, dass wir schlecht sind. Die Realität ist jedoch, dass wir Fehler machen, die normal sind und uns menschlich machen." - Lewis Howes